Die gerechte Ehebrecherin

Dem vielfältigen Miteinander gerade in Familien werden klare Schuldzuweisungen nicht gerecht. Das zeigen schon die Erzählungen des Alten Testaments – zum Beispiel die von Tamar.

Sie handelt nicht von irgendwem. Ihr „Held“ ist Juda, der Stammvater des größten und mächtigsten jüdischen Stammes. Und sie steht nicht irgendwo, sondern in dem Teil der Bibel, den die Juden Tora nennen – was heute fast immer mit „Gesetz“ übersetzt wird, aber eigentlich „Weisung“ bedeutet. Die Tora will Hilfe geben, wie ein Leben in Übereinstimmung mit Gottes Willen gelingen kann. Und sie wirft dabei ein anderes Licht auf das Thema „Schuld und Vergebung“ als die strenge jüdische Sitte.

Ehebruch mit dem Schwiegervater

Das sind die „facts“: Tamar ist mit Er verheiratet, dem ältesten Sohn des Stammvaters Juda. Er stirbt jung und hinterlässt sie als kinderlose Witwe. Nach den Regeln der damaligen Gesellschaft sollte nun Judas zweiter Sohn, Onan, mit Tamar einen Sohn zeugen, „um dem Namen seines Bruders Bestand zu verleihen“. Als auch Onan stirbt, wird Tamar zum zweiten Mal Witwe, und ihr Schwiegervater schickt sie zurück in ihr Elternhaus; dort soll sie warten, bis sein jüngster Sohn alt genug sei, mit ihr einen Sohn zu zeugen. Jahre später erfährt Juda, dass Tamar schwanger ist. Das gilt als Ehebruch, den Juda als Sippenoberhaupt bestrafen muss. Er zögert nicht lange und verurteilt sie zum Tod durch Verbrennen.

Juda handelt damit nach der Sicht der jüdischen Sitte. Doch hinter den „facts“, die nach außen erkennbar sind, gibt es eine andere Wahrheit, nach der sich die Frage der „Schuld“ ganz anders stellt. Und für diese Sicht der Gerechtigkeit tritt der Bibeltext nachdrücklich ein:
Onan, der zweite Sohn Judas, will keinen Sohn mit Tamar zeugen. Dieses Kind würde nicht als sein eigenes gelten, sondern das Erbe des älteren Bruders erhalten. Daran aber ist Onan nicht interessiert. Doch statt sich offen zu weigern und damit angreifbar zu machen, verhütet er durch Coitus interruptus, dass Tamar schwanger wird. Den Geschlechtsverkehr mit ihr will er, aber ihr Recht auf den Sohn, der ihr gesellschaftliche Anerkennung und finanzielle Absicherung garantieren würde, verweigert er ihr. Dieses Verhalten verurteilt der Bibeltext; der frühe Tod Onans wird mit seinem asozialen Verhalten begründet: Er verweigert seinem Bruder den Bestand seines Namens und seiner Schwägerin das soziale und wirtschaftliche Überleben.

Die Rolle von Juda

Aber auch Juda, der Sippenchef hat seinen Anteil an dem Unrecht, das Tamar widerfährt: Er fällt auf die Vorstellung von der männermordenden Frau herein. Statt nach dem Lebenswandel seiner Söhne zu fragen, hält er Tamar für schuldig am Tod von Er und Onan und beschließt deshalb, ihr den jüngsten Sohn zu verweigern. Indem er sie in ihr Elternhaus zurückschickt, ist die junge Frau aus der Familie ihres Mannes verstoßen. Die vage Vertröstung auf später, wenn der Jüngste erwachsen sein wird, macht es ihr zugleich unmöglich, sich einen neuen Mann zu suchen. Ein zweites Mal geschieht Tamar Unrecht, ohne dass sie die Möglichkeit hätte, sich dagegen zu wehren.

Als Tamar nach Jahren erkennt, dass Juda ihre Verbindung mit dem jüngsten Sohn nicht will, setzt sie sich als Kultprostituierte ans Tor eines Dorfes, zu dem ihr Schwiegervater bei der Schafschur reist. Er erkennt sie nicht und will mit ihr sexuell verkehren. Da er den geforderten Preis nicht bezahlen kann, lässt Tamar sich Siegelring, Schnur und Stab als Pfänder geben. Im alten Orient waren dies die Symbole von Identität und Macht, in unseren Alltag übertragen etwa gleichzusetzen mit Personalausweis, Kreditkarte und Handy. Als Juda nach ein paar Tagen versucht, diese Pfänder auszutauschen, kennt niemand in dem Dorf eine Kultprostituierte.

Sexualität der Frauen von Männern kontrolliert

Aus der passiven Witwe ist eine Frau geworden, die sich aktiv für ihr Recht einsetzt. Im Rahmen der überlieferten Regeln hat Tamars Handeln allerdings furchtbare Konsequenzen: Es wird als Ehebruch gewertet und mit dem Tod bestraft. Doch als Juda sie verbrennen lassen will, zeigt sie die Pfänder mit den Worten: „Diese Dinge gehören dem Vater des Kindes.“ Da versteht Juda und kommt zu dem abschließenden Urteil: „Sie ist gerechter als ich.“

Erzählt wird diese Geschichte in einer Gesellschaft, in der die Sexualität der Frauen vollständig von Männern kontrolliert ist: zuerst vom Vater, dann vom Ehemann oder dem zuständigen Sippenoberhaupt. Eine Frau, die außerhalb der Ehe schwanger wird, begeht Ehebruch und hat die Rechte eines Mannes verletzt. Zugleich misst diese Gesellschaft Männer und Frauen an unterschiedlichen moralischen Maßstäben: Es ist völlig selbstverständlich, dass die Männer nach der Schafschur von dem eingenommenen Geld den Verkehr mit einer Prostituierten bezahlen.

Wie im Umfeld der Fußball-WM

Vielleicht halten manche diese gesellschaftlichen Regeln heute für fremd und überholt. Doch berichtet jede aktuelle Tageszeitung über Ereignisse, bei denen Menschen schuldig werden, ohne gegen Gesetze zu verstoßen, und über Menschen, die ihr Recht nicht bekommen, weil die Macht nicht auf ihrer Seite ist. Und nach wie vor gibt es Unrechtsstrukturen zu Lasten von Frauen – gerade erst warnten Frauenverbände im zeitlichen Umfeld der Fußballweltmeisterschaft vor Zwangsprostitution und Menschenhandel.

Die Bibel kommt (in Gen 38) zu einem eindeutigen Urteil: Tamar, die „Ehebrecherin“, hat nicht nur für ihr eigenes Recht auf Nachkommenschaft gesorgt, sondern sogar dem Stamm zum Überleben verholfen. Dagegen hat Juda, der Hüter von Recht und Gesetz, Unrecht getan, indem er der Frau ihre Lebensrechte verweigerte.

Das Schlüsselwort am Ende der Erzählung von Tamar, Juda und ihrer Familie lautet: „Sie ist gerechter als ich.“ Gerechtigkeit ist in unserem alltäglichen Sprachgebrauch ein Verhalten, das „Jedem das Seine“ garantiert. Im Sprachgebrauch der Bibel ist es dagegen ein Verhalten, das sich am Gemeinwohl orientiert. Alle sollen das haben, was sie brauchen. Möglicherweise muss also der einzelne etwas vom Eigenen abgeben, wenn ein anderer es dringend braucht. „Sedaka“, Gerechtigkeit ist ein Tun, das versöhntes, friedliches, geglücktes Leben möglich macht. Sie ist im biblischen Verständnis das Gegenteil von Sünde.

Das Verständnis von Schuld und Sünde in der Bibel verdeutlicht Psalm 15. Auf die Frage, wer am Kult teilnehmen dürfe, antwortet der Psalmist nicht mit Reinheitsvorschriften, sondern mit sozialen Maßstäben:

Wohnen auf dem heiligen Berg darf der oder die Gerechte. Und wer das ist, erläutern die folgenden Verse: Wahrhaftigkeit, Güte, Unbestechlichkeit gehören dazu – also alles, was dazu beiträgt, dass die Welt und das Miteinander der Menschen in Ordnung sind. Sünde ist weniger ein individuelles Fehlverhalten als vielmehr ein gemeinschaftsschädigendes Verhalten.

Die Tamar-Erzählung macht deutlich, wie groß der Unterschied sein kann zwischen Gesetzen und einer Moral, die Leben fördern und sichern will. Gerechtigkeit ist mehr als Recht, und schuldig ist nicht immer die Person, die sich nicht an die Regeln hält. In der Bereitschaft Judas, den „formaljuristischen“ Standpunkt zu verlassen und das eigene Unrecht einzugestehen, liegt die Chance zu neuem Anfang.

Eleonore Reuter